Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die These, dass viele Missverständnisse des interkulturellen Dialogs daraus entstehen, dass Texte (und Dialoge) ohne ihren Kontext zirkulieren. Die Werke und Ideen von Denkern aus anderen Kulturen werden demzufolge auch heute noch in der Regel mit den Kategorien des eigenen nationalen Feldes reinterpretiert und damit nostrifiziert. Dieser Prozess wird besonders in der Philosophie noch dadurch akzentuiert, dass ihr Selbstverständnis von einer dekontextualisierten und universellen Disziplin ausgeht, in der ein reiner und damit rationaler philosophischer Dialog möglich ist. Diese Vorstellung verdeckt aber – so die These dieser Arbeit – den sozialen Raum bzw. die strukturellen Rahmenbedingungen, in dem sich ein Dialog immer bewegt. Dies zeige ich in der vorliegenden Arbeit anhand des interkulturellen Dialogs zwischen einem Vertreter der europäischen Diskursethik, K.-O. Apel, und einem Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungsethik, E. Dussel. Dabei habe ich als Soziologe den Versuch unternommen, den inhaltlichen Dialogverlauf (WAS) zwischen K.-O. Apel und E. Dussel sowie die Art und Weise ihres Umgangs miteinander (WIE) als Antwort auf drei strukturelle Rahmenbedingungen zu behandeln:
(1) Ihre jeweilige biographische Herausforderungssituation,
(2) ihre jeweilige kontextuelle Herausforderungssituation und
(3) ihre jeweilige Modernekonzeption.
Diese strukturellen Rahmenbedingungen produzieren als sogenannte intervenierende Variablen eine Wirkung im Dialog, die ich in der Arbeit als Nostrifizierung bezeichne, d.h. eine Aneignung nach eigenem Maß. Zwar wenden beide Philosophen diese Nostrifizierung als Verfahren an, aber sie unterscheiden sich in der Form: Während K.-O. Apel die Befreiungsethik abwehrt – entweder als bekannt oder als unverständlich -, baut E. Dussel die Diskursethik in seine Befreiungsethik ein.